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Auf dem großen netzpolitischen Kongress der GRÜNEN Bundestagsfraktion im Oktober 2012 haben wir mit gut 400 international angereisten Experten und Vordenkern unter dem Motto "Ein Gesellschaftsvertrag für das digitale Zeitalter" versucht, das Rad weiter zu drehen.
Mit herausragenden Impulsen von netzpolitischen Ikonen wie Lawrence Lessig zum Thema "ONLY THE NET CAN SAVE US, AND SAVE US IT MUST" und Ben Scott zum Thema "DIGITAL DISRUPTION - BUILDING A PROGRESSIVE POLICY AGENDA FOR THE INTERNET", 18 hochkarätig besetzten WorkShops und 2 prominent besetzten Podiumsdiskussionen sind wir in der Diskussion über die Ausgestaltung eines Gesellschaftsvertrags für das digitale Zeitalter ein gutes Stück weiter gekommen.
In den WorkShops - gegeben von EU-Parlamentariern, Bundestagsabgeordneten, Wissenschaftlern und angesehenen Interessenvertretern/Aktivisten - wurde teils auf sehr hohem Niveau der aktuelle Stand zum jeweiligen Thema ausgetauscht und konstruktiv weitergedacht. Die Themen samt Protokollen und Links/Infos zu den Referenten sind online.
Einen der WorkShops (Nr. 15: "Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0") habe ich konzipiert und abgehalten (Link führt zur Etherpad-Mitschrift des sehr gut besuchten Seminars). Als Einstieg hier zudem der Ankündigungstext des Workshops:
Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0 – digitalisierte Öffentlichkeit zwischen Kolonialisierung und Selbstreferenz?
JÜRGEN HABERMAS „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ beschreibt den Wandel einer allein vom Adel und Klerus gebildeten repräsentativen Öffentlichkeit hin zu einer bürgerlichen Öffentlichkeit, bei der neben den politischen Diskursen vor allem Literatur, Geschichte, Wissenschaft und Kunst im Zentrum der veröffentlichten Kommunikation stehen und in der die Massenmedien dem Siegeszug der bürgerlichen Werte und westlich-demokratischen Weltanschauung dienen. Und er warnt uns davor, dass mit der fortschreitenden Professionalisierung und Ökonomisierung der Massenmedien, die er als „Kolonialisierung“ der öffentlichen-medialen Kommunikation durch die Systemlogiken und Sachzwängen der Wirtschaft und Technik beschreibt, diese kritisch-reformerische Kraft des öffentlichen Diskurses und seine Stützung der bürgerlichen und demokratischen Ordnung verloren gehen würde.
GERHARD SCHULZE schlägt 2011 im Rahmen seiner Betrachtungen zur Bedeutung der Digitalisierung für Kunst und Kultur nun vor, von einem „Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0“ zu sprechen. Er meint damit den Wandel von der bürgerlichen Öffentlichkeit zu einer digitalisierten Öffentlichkeit, bei der in einer unendlich fragmentierten und medialisierten Kommunikation die bisherige Trennung von Kreativem/Sender und Publikum aufgehoben wird und in der neuen Sozialfigur User eine Personalunion eingeht. Er beschreibt dabei eine „Egalisierung der Werke und Demokratisierung der Rezipienten“ in einer Netzöffentlichkeit, in der es keine allgemein akzeptierten Qualitätskriterien mehr gibt, sondern nur noch Klickraten und persönliche Ansichten. Er spricht davon, dass „Kostbarkeit im Kostenlos“ unmöglich sei und die Marginalisierung vormals Orientierung gebender Diskurse zu beliebigen Enklaven einer total segmentierten Öffentlichkeit die bürgerliche Öffentlichkeit auflösen würde. Aber er erkennt genauso, dass dieser Verlust der Mitte und Orientierung nicht grundsätzlich von Nachteil sein müsse, denn „eine fragmentierte Öffentlichkeit sei weniger anfällig für Wahnsinn“. Und das frühere Problem des Zugangs zum Diskurs habe sich in der digitalen Öffentlichkeit auf die technische Frage des access reduziert. Er hält hoch, dass die strukturellen und normativen Einschränkungen und Gatekeeper, die in der bürgerlichen Öffentlichkeit den öffentlichen Diskurs noch stark vorstrukturierten, im Internetzeitalter wegfallen und die User nun quasi gezwungen werden, autonom zu sein. Das Netz sei in diesem Sinne eine „Schule des Urteilens für Autodidakten“ und die Virtualität würde dabei keineswegs zum Verlust lebensweltlicher/realer „Begegnungen“ mit der Welt und den Dingen führen, sondern typisch sei vielmehr eine Dialektik von Virtualität und körperlicher Präsenz, bei der ständig das eine aus dem anderen hervorgeht, eine Erfahrung in einer Sphäre eine Vertiefung und Relativierung in der anderen Sphäre geradezu verlange. SCHULZE stellt daraufhin die kulturpolitische Gretchenfrage: „Bringt uns dieser Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0 eigentlich weiter oder ist die nächste Enttäuschung schon programmiert? Werden wir freier und selbstbestimmter oder werden wir nur wieder von einer Haftanstalt in die nächste verfrachtet?“
Bedroht der neuerliche Strukturwandel der Öffentlichkeit mit seiner durch Technisierung, Instrumentalisierung, Privatisierung/Fragmentierung und Widersprüchlichkeit gekennzeichneten öffentlich-medialen Kommunikation unsere bürgerlichen Gesellschaften? Oder ist die digitale Öffentlichkeit nur das kommunikative Pendant des westlich-modernen Strebens nach freiheitlichem, demokratischem, solidarischem und aufgeklärtem Zusammenleben in einer Welt, die zunehmend überkomplex und selbstreferenziell ist?
Ich möchte in einem Workshop herausarbeiten, dass wir dies derzeit noch in den Händen haben und weder eine Kolonialisierung der digitalen Öffentlichkeit sensu HABERMAS noch eine selbstreferenzielle Ausdifferenzierung und quasi Wegentwicklung der digitalen Sphäre von der lebensweltlichen Sphäre sensu LUHMANN der digitalen Öffentlichkeit drohen müssen. Beide Entwicklungen sind möglich, aber in Kenntnis dieser Gefahren und durch Stärkung der wechselseitigen Durchdringung und Interdependenzen (Input-Output-Beziehungen) zwischen digitaler Öffentlichkeit und den anderen Sphären/Teilstrukturen der Gesellschaft können wir gezielt gegensteuern und durch entsprechende gesellschaftspolitische Weichenstellungen eine Balance zwischen gegenseitiger Befruchtung und Kontrolle zwischen digitaler Öffentlichkeit und den anderen sozialen Funktionsstrukturen/Subsystemen sicherstellen.
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